„Die Welt ist unsere Aufgabe“

Gelsenkirchen | In der Neuen Synagoge Gelsenkirchen nahm Pfarrerin und TZI-Expertin Antje Röckemann in ihrem Vortrag die Gäste mit auf eine Reise durch das Leben von Ruth C. Cohn und die Entstehung und Bedeutung der Themenzentrierten Interaktion. Im Vordergrund standen dabei jüdische Werte und das gesellschaftstherapeutische Anliegen der TZI. Am Flügel begleitet wurde der Vortrag vom Konzertpianisten Aleksandar Filić.

Pfarrerin Antje Röckemann aus dem Referat für Gesellschaftliche Verantwortung.

Konzertpianist Aleksandar Filić fing durch seine Musik-Auswahl die Emotionen der Zuschauer:innen ein und trug zu einem unvergesslichen Abend bei.

Ruth Cohn: Ehre wem Ehre gebührt
Der Vortrag stand unter dem Titel „Die Welt ist unsere Aufgabe“, ein Zitat von Ruth C. Cohn aus dem Jahr 1974, die wenige Jahre zuvor mit dem Preis als Psychologin des Jahres ausgezeichnet wurde. Antje Röckemann stellte nicht nur den außergewöhnlichen Lebensweg Ruth Cohns vor, sondern beschäftigte sich insbesondere mit der Frage, was ihr „unschätzbares Vermächtnis“ mit dem Judentum zu tun hat. Ruth Cohn, geboren 1912 in Berlin und verstorben 2010 in Düsseldorf, widmete ihr Leben der Erforschung menschlicher Beziehungen und Kommunikation. Aus Nazi-Deutschland floh die Jüdin im Jahr 1933 über die Schweiz nach New York. Mit fundiertem pädagogisch-psychologischem Wissen kehrte sie Anfang der 1970er Jahre mit ihrer entwickelten Themenzentrierten Interaktion (TZI) zurück nach Europa.

TZI: Lebendiges Lernen in der Arbeit als Pfarrer:in
Die Themenzentrierte Interaktion ist ein demokratisches Modell der Gruppenarbeit, das in Europa – und neuerdings auch Indien – stark vertreten ist und vor dem Hintergrund der Humanistischen Psychologie entstand. Anwendung findet die TZI in pädagogischen, beruflichen, therapeutischen Kontexten und hat sich dadurch auch im kirchlichen Umfeld etabliert. Die TZI lehrt, wie man mit Konflikten umgeht, für gute Arbeitsergebnisse sorgt und lebendig Themen vermittelt – auch biblische Inhalte. „Pädagogisches und psychologisches Wissen tut nahezu jeder Berufsgruppe gut, gerade auch Pfarrer:innen“, referiert Röckemann über ihr Vikariat im Jahr 1990, das sie erstmals zur TZI und schließlich zu Ruth Cohn führte. „Ich kenne, lebe und atme die TZI schon lange. Und immer wieder mal hatte ich so einen Eindruck: ‚das ist doch irgendwie jüdisch‘ “, erklärt Röckemann. Beim Lernen und Praktizieren der Methode nimmt sie immer häufiger den jüdischen Einfluss wahr und geht dem Gefühl nach. Sie stieß dabei zwar mehrfach auf Hinweise, dass die Vertreter:innen der humanistischen Psychologie jüdisch waren, inhaltlich fand sie in ihren Quellen aber keinen Zusammenhang.

Tikkun Olam oder Die Welt verbessern
Der Höhepunkt des Vortrags ist der Moment, in dem die Pfarrerin von ihrer Begegnung mit dem hebräischen Ausdruck Tikkun Olam erzählt, ein Ausdruck, auf den sie in der jüdischen Community stößt. Sie stellt dadurch einen Zusammenhang zwischen der Themenzentrierten Interaktion, Ruth Cohn und dem Jüdisch-Sein her. Tikkun Olam: Ein hebräischer Ausdruck, der einigen im Publikum noch unbekannt war, doch schnell durch die Übersetzung verstanden wurde: „Die Verbesserung oder Reparatur der Welt. Oder: Den Riss, der in der Welt ist, nähen.“ Jüdische Ethik, allen voran die „Verantwortung für Andere, für die Nächsten, die Fremden, letztlich die Welt“ und der „Sinn für soziale Gerechtigkeit“ –  Antje Röckemann erklärt die Humanistische Psychologie und damit die TZI „als eine Richtung, die jüdische Werte in etwas Allgemein-Menschliches übersetzt – und damit allen zugänglich macht.“, und erhält dafür nickende Zustimmung aus dem Publikum.„Es geht aber nicht um ein Aufopfern, sondern um eine Balance zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe“, so die Theologin.

Aleksandar Filić: Emotionale Begleitung am Klavier
Untermalt wurde der Abend durch die musikalische Begleitung des Konzertpianisten Aleksandar Filić. Von Fanny Mendelsohns „Lied ohne Worte“ über den Protestsong „We shall overcome“ bis hin zu dem jüdischen Semirot  „Yedid Nefesh“ war die bedachte Auswahl der Stücke spürbar und brachte auch das Publikum zum Mit-Summen.

Das letzte Wort gehört Ruth Cohn
Die Referentin erzählt auch von ihrer persönlichen Begegnung mit Ruth Cohn im Jahr 1998 und lässt sie dadurch für einen Moment wieder lebendig werden. Der Abend ist eine gelungene Hommage an die Psychologin Ruth Cohn und ihr Engagement für ein soziales und gerechtes Miteinander, das sie aufgrund ihrer humanistischen, jüdisch beeinflussten Werte zur Entwicklung der TZI geführt hat.Die Pfarrerin leitet das Ende des Vortrags mit „Mutmach-Worten“ von Ruth Cohn ein, „die wir angesichts unserer gemeinsamen Aufgabe, uns um die Welt zu kümmern, gut gebrauchen können.“

„Ich bin nicht ohnmächtig, ich bin nicht allmächtig, ich bin teil-mächtig.“
 

Text: Nada Ftouni
Fotos: Andrea Lötscher