Nie wieder! Nie wieder? Nie wieder ist jetzt!

Gelsenkirchen – Rund 900 Menschen waren dem Aufruf zum Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome 1938 gefolgt. Neben vielen weiteren Initiativen, Parteien und Verbänden gehört auch die Evangelische Kirche Gelsenkirchen und Wattenscheid zur Demokratischen Initiative, die damit gegen Diskriminierung und Gewalt, für Menschenrechte und Demokratie eintritt.

Viele hundert Menschen waren dem Aufruf der Demokratischen Initiative gefolgt und beteiligten sich am Schweigezug, der zum Mahnmal für jüdische Zwangsarbeiterinnen auf dem Friedhof Horst – Süd führte.

Eine außergewöhnliche Atmosphäre herrschte beim Zusammenkommen auf dem Vorplatz von Schloss Horst. Dicht an dicht gedrängt standen alle in völliger Dunkelheit. Ältere, Familien mit Kindern, manche kamen mit Fahrrädern, andere wohl gerade von einem Laternenumzug. Drei Generationen waren bei diesem großen Schweigezug dabei. Als er sich langsam in Bewegung setzt, schließen sich spontan noch weitere Menschen an. Eskortiert von der Polizei bewegt sich der große Tross langsam Richtung Südfriedhof. „Wir gedenken der Opfer der Novemberpogrome von 1938“: Vorneweg das unübersehbare Banner, getragen von Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchenern, denen dieses Gedenken an die deutsche Geschichte wichtig ist.

Eine beeindruckende Stille herrscht beim Gang durch die Straßen der Stadt hin zum Mahnmal für jüdische Zwangsarbeiterinnen, für die Opfer des KZ – Außenlagers Gelsenberg. Nur einige Strahler weisen den Weg bis hin zur Rednerbühne. Als die vielen hundert Menschen dort ankommen, ergreift Judith Neuwald-Tasbach von der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen das Wort: „Nie wieder! Nie wieder? Nie wieder ist jetzt!“ Seit langer Zeit werde auch in Gelsenkirchen an die Opfer der NS – Zeit erinnert. Doch die Hoffnung, dass Jüdinnen und Juden in Frieden und Sicherheit in Deutschland leben könnten, sei in letzter Zeit deutlich geschwunden.

Vor 85 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November steckten Nationalsozialisten und ihre Anhänger in Deutschland Synagogen in Brand, plünderten jüdische Geschäfte, ermordeten hunderte Juden. Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und anderer Menschen, die als „Gemeinschaftsfremde“ stigmatisiert wurden, gipfelte in Vernichtungskrieg und Völkermord.

Hunderte jüdische Frauen, verschleppt aus Ungarn, mussten bei der Gelsenberg – Benzin AG in Gelsenkirchen unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Eine dieser Frauen war die Mutter von Judith Neuwald-Tasbach. Bei einem Luftangriff am 11. September 1944 wurde den Frauen der Zugang zu Schutzeinrichtungen verwehrt. Etwa 150 jüdische Frauen und Mädchen kamen so ums Leben. Neuwald-Tasbachs Mutter überlebte schwer verletzt. An das Schicksal all dieser Zwangsarbeiterinnen wurde bei der Kundgebung auf dem Friedhof erinnert.

Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde machte deutlich, dass heutzutage schon wieder jüdische Mitmenschen in Deutschland in Angst leben. „Wir erleben, dass Opfer zu Tätern gemacht werden. Wir müssen gegen die angehen, die unsere Demokratie angreifen. Es ist dringend erforderlich, dass gegen die nationalistischen Strömungen angegangen wird. Auch wenn es Mut erfordert: Nie wieder ist jetzt!“

Es folgte das Kaddisch, das jüdische Gebet der Trauernden. Trotz heftig einsetzender Regenschauer verließ kaum jemand die Kundgebung. „Es ist so gut, dass so viele heute hierhergekommen sind!“ Thomas Kutschaty, Landesvorsitzender des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge Nordrheinwestfalen erinnerte in seiner Rede daran, dass damals, vor 85 Jahren, Jüdinnen und Juden gezwungen wurden, deutlich sichtbar den Judenstern zu tragen. „Heute wird so etwas wieder an Häuser geschmiert, in denen jüdische Mitmenschen leben! Heute müssen wir erleben, dass das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionen von Hass erschüttert wird. Es darf nicht sein, dass jüdische Eltern Angst haben, ihre Kinder in die Kita und Schule zu schicken. Jüdinnen und Juden müssen in Deutschland leben können. Der Grundkonsens des „Nie wieder!“ wird heute nicht mehr von allen Menschen in Deutschland getragen. Der 9. November hat gezeigt, wozu die Nationalsozialisten fähig waren.“ Die Kriegsgräber auch in Gelsenkirchen seien Zeugnisse davon, was Krieg mit Menschen mache. Vielleicht seien diese Erinnerungen noch nie so wichtig wie heute.

Auch Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin, Karin Welge, war über den großen Zuspruch zu Schweigemarsch und Kundgebung erfreut. „Wir setzen seit fast 60 Jahren damit ein Zeichen. Dass wir heute hier sind, ist wichtiger denn je.“ Jede und Jeder müsse sich jeden Tag aktiv in seinem Umfeld für Menschenwürde und Demokratie einsetzen. „Wir Demokraten müssen Präsenz zeigen, tagtäglich!“

Text: Frauke Haardt-Radzik

Foto: Cornelia Fischer